Suot tschêl blau

2020_11_19_Suot tschl blau_005jpg

Ein verdrängtes verschüttetes Sozialkapitel in Samedan: Zeitzeugen erinnern sich an die Achtzigerjahre, als Drogen neue Perspektiven und (falsche) Hoffnungen weckten. (Outside the Box)



Verdrängt, vergessen, verloren


Die Zürcher Drogenszene strahlte in den Achtziger- und Neunzigerjahren weit über die Limmatstadt hinaus. Junge Leute aus dem Engadin lockte der Hauch des Verbotenen, des Ausbrechens aus der Normalität. Die Dorfjugend wollte vorherrschende Normen sprengen, witterte Morgenluft im abgeschiedenen Oberengadin, versorgte sich mit Drogen und berauschte sich am Freisein auf Zeit. Dem Höhenflug folgte der Absturz, für einige endete er tödlich. Das Engadin boomte als Tourismusregion, da konnten Drogensüchtige nur stören. Über die Jungen damals und die Toten um 1980 breiten weite Bevölkerungskreise bis heute am liebsten einen Mantel des Schweigens.

Filmemacher Ivo Zen («Zaunkönig – Tagebuch einer Freundschaft», 2016), in Santa Maria (Val Müstair) aufgewachsen, wusste dazumal nichts von diesen rebellischen Jungen in der Nachbarschaft, die ihr Heil im Heroin suchten. Zen (50) ging dieser verdrängten, verschütteten Geschichte nach. Die Ereignisse wurden nie recht aufgearbeitet, der Filmer fand Zeitzeugen, Beteiligte, Opfer, die sich schmerzhaft erinnerten. Die Allgemeinheit der Dorfbevölkerung möchte das tragische Kapitel nicht wieder aufschlagen, sondern lieber auf sich beruhen lassen.

«Um für die Erinnerung an die verdrängte, verschwiegenen Geschichte einer verlorenen Jugend einen Platz zu schaffen, richtete ich im Kulturarchiv einen Erinnerungsraum ein», berichtet Ivo Zen. «Eltern, Geschwister, Geliebte und Freunde der Verstorbenen legen im Verlauf des Films einen persönlichen Gegenstand der Erinnerung auf einem alten Nussbaumtisch ab. Ein Akt des Loslassens und des Teilens der eigenen Geschichte.» Der Filmtitel «Suot tschêl blau» (Unter blauem Himmel) spielt auf Engadiner Postkartenidylle und heile Tourismuswelt an, hinter der sich eben auch eine andere, dunkle Wirklichkeit verbirgt. Sein Film liefert ein Stück Erinnerungsarbeit und wird zum Zeugnis ungeschönter Wirklichkeit. Die Schweiz verdrängt gern Unliebsames, Unbewältigtes wie etwa die Grenzschliessung und Abweisung der Juden im Zweiten Weltkrieg. Zen zerreisst den Schleier des Vergessens und appelliert an die Kraft der Erinnerung. Ivo Zens Ansinnen: «Die Verstorbenen sollten nicht doppelt Opfer bleiben: Einmal wegen ihrer Drogensucht und einmal wegen des verhängten Schweigens.» Sein Film legt davon eindrücklich Zeugnis ab.


4_Star_Lionjpg

Schweiz 2020
70 Minuten

Buch und Regie: Ivo Zen
Kamera: Kaleo La Belle


Zurück