Zweckgemeinschaft und Liebe: Die engagierte Anwältin Barbara Hug (Marie Leuenberger) spielt eine gewichtige Rolle im Leben Walter Stürms (Joel Basman), des bekanntesten Ausbrechers der Schweiz. (Ascot Elite)
Ein Knast-König von trauriger Gestalt
Zum Interview mit Joel Basman
Er klaute aus Passion, stahl Autos, war spezialisiert auf Einbrüche und Tresor knacken. Der Mann aus bürgerlichen Verhältnissen, 1942 im St.Gallischen geboren, wurde geschnappt und 1964 als 22Jähriger zu einer Gefängnisstrafe von drei Jahren verurteilt. Und so begann seine wahre Karriere als Ausbrecher. Walter Stürm türmte kurz nach der ersten Verurteilung – insgesamt achtmal brach er aus. Die Medien machten ihn bekannt, und so wurde der Kriminelle in den Achtzigerjahren ungewollt zum Liebling und zur Symbolfigur linker Aktivisten. Stürm wurde politisiert und als Opfer des Staates hingestellt. Er selbst wehrte sich mit Hungerstreiks.
Für die einen war er ein faszinierender Aussenseiter, für die anderen eine zwielichtige Gestalt und notorischer Gesetzesbrecher: Walter Stürm wurde in der Schweiz so bekannt wie Olympiasieger Bernhard Russi oder Fussballer Karl Odermatt. Seine Fluchten waren legendär. Stürm wurde von den Medien als Ausbrecherkönig «geadelt».
Mit Stürms sechstem Ausbruch 1980 setzt der Spielfilm von Oliver Rihs ein. Und es sollte nicht seine letzte Flucht sein. Im Kampf gegen Schweizer Haftbedingungen fand er in der Anwältin Barbara «Babs» Hug eine resolute Verbündete. Sie war eine Idealistin, welche das Schweizer Rechtssystem reformieren wollte. Es ist die Zeit der Jugendunruhen, der Zürcher Krawalle ums AJZ. Leute der linken Bewegung werden auf Stürm aufmerksam, die Schweizerin Hug sucht Kontakt mit einer deutschen Aktionistin (Bibiana Beglau) und einer «roten Zelle». Der kriminelle Stürm wird zur Symbolfigur für Autonomie und Selbstbestimmung. In der Schweiz gingen junge Bewegte und Intellektuelle für ihn auf die Strasse und protestierten gegen dessen Isolationshaft. Stürm rebellierte 1987 mit einem Hungerstreik gegen die Haftbedingungen. Insgesamt verbrachte er sechs Jahre in Einzelhaft.
Rihs streut Dokumentarbilder aus jener Zeit in seinen Film ein, den man auch als Selbstfindungs- und Beziehungsdrama taxieren könnte. Denn letztlich rückt er das Verhältnis zwischen «Knastbruder» Stürm und «Anwaltsschwester» Hug ins Zentrum. Sie ist fasziniert vom kriminellen Aussenseiter. Sie scheint verliebt. Er ist und bleibt gleichwohl ein Verbrecher, der seine Freiheit sucht, aber gegen Ende eine absonderliche Zuneigung zum Gefängnis entwickelt. Nach seiner Freilassung 1998 provozierte er – im Film – geradezu eine erneute Verhaftung. Seine Freiheit suchte und fand er auf radikale Weise. Stürm beging 1999 im Frauenfelder Gefängnis Selbstmord.
Parallel zu seinem tragischen Ende findet Anwältin Barbara Hug (Marie Leuenberger) ihre (physische) Freiheit und schwimmt – offensichtlich geheilt – ins Meer hinaus. Die Entwicklung ihrer Krankheit (sie ist gehbehindert) bleibt im Film diffus. Marie Leuenberger («Die göttliche Ordnung») spielt sie phänomenal und wird zur positiven Hauptfigur. Joel Basman («Monte Verità») wirkt etwas zu sympathisch und agil als Räuber mit Charme, aber ohne Horizont. Die Maskeraden tun ihr Übriges, Stürm als wandelndes Unikum wahrzunehmen. Sein Gerede von Freiheit und Unabhängigkeit wirkt leer und überzeugt wenig. Ein hoffnungsloser Fall. Die Beziehung zur Strafverteidigerin bleibt vage – eine Liebe auf Zeit? So nimmt man an einer Zeitreise teil – durchaus respektabel rekonstruiert – die trotz exzellenter Schauspieler (Anatole Taubman als Staatsanwalt, Jella Haase als Punk der Linken Szene) – seltsam flüchtig und fahrig bleibt. Allein Hug/Leuenberger (die echte Strafverteidigerin starb 2005) sorgt für spannende und hoffnungsvolle Momente in diesem Sozialdrama.
Immerhin, die Auseinandersetzung um Freiheit wird hier an zwei ambivalenten Menschen thematisiert, am Kriminellen, der sich nimmt, was er will und kriegen kann (so auch die Freiheit jenseits der Gefängnismauern) und an der Anwältin, die sich regelrecht frei schwimmt – äusserlich und innerlich. Den Versuch war es wert.
Schweiz 2021
119 Minuten
Regie: Oliver Rihs
Buch: Rihs, Dave Tucker, Ivan Madeo, Oliver Keidel
Kamera: Felix von Muralt
Darsteller: Joel Basman, Marie Leuenberger, Anatole Taubman, Jella Haase. Pascal Ulli, Bibiana Beglau
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