La mif

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Leiden als Leiterin: Lora (Claudia Grob) weiss um die Nöte ihrer Heimbewohnerinnen und kann ihnen doch nicht immer helfen. (Aardvark Film)

 

Ersatz für Familiengeborgenheit:
Schutzbefohlene schutzlos?

 
Mädchen im Teenageralter aus zerrütteten Verhältnissen finden in einem Heim ihre «mif», ihre neue Familie. Geschützt, aber auch gefährdet. In flagranti ertappt: Das Mädchen Audrey vergnügt sich mit einem Jungen. Man liebt sich, und eine Betreuerin erwischt die beiden. Das darf bei diesen Jugendlichen – zwar geschlechtsreif, aber nicht mündig, strafrechtlich gesehen – nicht sein. Der Zwischenfall muss gemeldet werden und sorgt für happige Auseinandersetzungen – nicht nur unter den Schutzbefohlenen, sondern auch Betreuern und Betreuerinnen.

Sie sind so verschiedenen wie ihre Hautfarbe, ihre Herkunft, ihre Vergangenheit, die jungen Frauen im Teenageralter. Audrey steht auf Sex und wird erwischt. Précieuse wurde vom Vater vergewaltigt. Auch Justine hat schlechte Erinnerungen an ihre Eltern. Alison und Caroline sind ein verschworenes Pärchen und beklauen aus Jux auch mal einen alten Mann. Die Heimleiterin Lola (Claudia Grob) versucht einen Spagat zwischen Sympathie und Pflicht, Nähe und Distanz. Dass ein Mädchen ihr zum Vorwurf macht, die eigene Tochter nicht schützen zu können (diese hatte Selbstmord begangen), trifft Lola schwer. Als sie schwer beleidigt und provoziert wird, schlägt sie zurück – wie weiland Will Smith bei der Oscar-Verleihung. Lola, die sich aufopfert, wird selbst zum Opfer.
 
Der Genfer Fred Baillif beschreibt das Dilemma zwischen Beziehung und Betreuung, Gebot und Verbot (von Amts wegen) auf eindrückliche Weise. Sein intimes Sozialdrama «La mif», deftig, teilweise rüde im Ton, fast zärtlich in den Zwischentönen, blättert in acht Kapiteln Probleme junger Menschen und Erzieher auf. Hier spiegeln sich gesellschaftliche Risse, Gebote, die der Realität nicht immer gerecht werden. Der Film, just mit dem Schweizer Filmpreis Quartz ausgezeichnet, vereint Fiktion und Wirklichkeit. Filmer Baillif arbeitete mit Laien, die ihre eigenen Heimerfahrungen einbrachten. Claudia Grob selber hat als Erzieherin und Heimleiterin gearbeitet und war höchst überrascht, dass sie zu Quartz-Ehren kam.

Die dokumentierte Wirklichkeit, zwar inszeniert, aber hautnah an den Menschen, verdient grossen Respekt und setzt ein Ausrufezeichen in Sachen Erziehung und Schutzbedürftigkeit, Sexualität, Empathie und Gesellschaft.
 

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Schweiz 2021  
112 Minuten

Regie und Buch: Fred Baillif
Kamera: Joseph Areddy
 
Mitwirkende: Claudia Grob, Charlie Areddy, Kassia Da Costa, Amandine Golay, Joyce Esther Ndayisenga, Amélie Tonsi, Anaïs Uldry, Sara Tulu


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