Der Junge muss an die frische Luft

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Der Knirps verkleidet sich gern, imitiert und parodiert im Kreise seiner Familie: Hans-Peter (Julius Weckauf) ist ein Komiker von Kindesbeinen an. (Filmcoopi)



Kerkelings komische Kohlenpott-Kindheit


Er bescherte dem Fernsehpublikum einmalige Spassmomente. Der Junge aus dem Kohlenpott, Hans-Peter «Hape» Kerkeling, war ein unwiderstehlicher Komiker. Der Nährboden seiner Spässe findet sich in seiner Kindheit zwischen Trauer, Trotz und Liebe. Dazumal in den Siebzigerjahren hat der Knabe bereits Sketche für seine Familie aufs Parkett gelegt. Das waren noch Zeiten, als das Telefon Seltenheitswert hatte, als Kinder noch Cowboy und Indianer im Garten spielten oder sich «Bonanza»-ähnlich auf einen Pferd fühlen konnten. Die Siebzigerjahre. Schauplatz ist Recklinghausen im Ruhrgebiet, als man noch rauchte wie die Schlote im Kohlenpott. Und aus dem Radio dudelte Roy Blacks «Du bist nicht allein».

Der pummelige Bengel, nicht gerade mit sportlichen Talenten gesegnet, heisst Hans-Peter (Julius Weckauf) und macht den Clown in der Familie. Mal imitiert er eine umtriebige Nachbarin, mal führt er seiner depressiven Mutter (Luise Heyer) eine schwebende Jungfrau vor, um sie aufzuheitern. Denn Mama Margret leidet nach einer Operation an Geschmackverlust und Depressionen. Er tut sein Bestes und kann ihren Freitod doch nicht aufhalten.

Hans-Peter ist todtraurig, aber geborgen im Kreis der Tanten wie Ordensschwester Lisbeth (Birge Schade), der Grossmütter (Ursula Werner, Hedi Kriegeskotte) und Grossväter (Joachim Król, Rudolf Kowalski). Der Vater (Sönke Möhring) ist meistens beruflich abwesend, eben auf Montage. Opa Willi (Król) ist es dann, der nach dem tragischen Todesfall die Initiative ergreift und den betrübten Knaben auf eine österreichische Ferienreise nimmt: «Der Junge muss an die frische Luft».

Unter diesem Titel hat der spätere Humorist, Schauspieler und Wanderer Hans-Peter «Hape» Kerkeling («Ich bin dann mal weg») diese Zeit in seiner Autobiografie «Meine Kindheit und ich» beschrieben. Caroline Link nahm die Vorlage zur Grundlage ihres Films. Eine famose Verfilmung mit Jungdarsteller Julius Weckauf, der sogar den realen Hape begeistert. Es ist eine Geschichte um Liebe und Verlust, Tragik und Humor – und über das Ruhrgebiet in den Siebzigerjahren. Regisseurin Caroline Link gelingt es nicht nur, ein stimmiges Zeitbild der Siebzigerjahre bis ins Detail zu zeichnen, sondern auch Freud und Leid, liebevollen Familienumgang und wunderbare Macken der Kleinbürger aufleben zu lassen. In kleinen Episoden werden die Spuren des grossen Hape gelegt: Der witzige Knabe, der sich gern verkleidete, imitierte und verstellte, legte Figuren an, die später berühmt wurden. Bei einer Schulaufführung reisst er als Prolo-Hauswart die Eltern zu Lachstürmen hin. Das muss der Vorgänger des irren Trenchcoat-Prolo Horst Schlämmer gewesen sein.

Geschickt lavierend zwischen Tragik und Komik, wird auch ein bisschen Kohlenpott-Schmalz mitgeliefert. Warum auch nicht! Eine Wucht ist Jungdarsteller Julius Weckauf als Familienunterhalter Hans-Peter – nicht nur dass er Hape aus dem Gesicht geschnitzt zu sein scheint, sondern auch eine tolle Portion natürlichen Charme und Witz rüberbringt. Eine kleine Episode zum Schluss: Hans-Peter spielt eine Prinzessin, und alle finden es lustig. Im Gegensatz zum kleinen Darsteller. Kerkeling schreibt: «Über meine Geschlechtsidentität bestehen meinerseits keinerlei Zweifel. Da ich allerdings noch nicht in der Lage bin, meiner Verletzung den angemessenen Ausdruck zu verleihen, reisse ich mir wutentbrannt die Perücke vom Kopf und schreie Frau Edelmund an: 'Ich bin ein Junge! Merk dir das, Frau Edelmund!' Dieser dramatische Moment der Zuspitzung macht meiner Familie und vor allem mir schon früh ganz deutlich: Es geht mir nicht darum, mithilfe der Maske meine Identität aufzugeben. Sondern darum, spielerisch eine andere Identität darzustellen – und zwar so überzeugend wie möglich.»


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Deutschland 2018
100 Minuten

Regie: Caroline Link
Drehbuch: Ruth Toma
Kamera: Markus Hürsch

Darsteller: Julius Weckauf, Luise Heyer, Sönke Möhring, Joachim Król, Ursula Werner, Maren Kroymann, Rudolf Kowalski


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