Anselm – Das Rauschen der Zeit

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Anselm Kiefers Refugium in Südfrankreich: In Barjac türmen sich «Die Türme der sieben Himmelspaläste». (DCM)



Eintauchen in komplexe Kunst


Wie rückt man einen Kunstmeister wie Anselm Kiefer ins Bild, ohne ihn und seine Werke nur abzubilden und zu dokumentieren? Wim Wenders («Pina», «Papst Franziskus», «Der Himmel über Berlin») löste sich von der Oberfläche, vom Objekt, vom Bild, von der Skulptur, der Installation.

Anselm Karl Albert Kiefer, 1945 in Donaueschingen geboren, ist ein «Meisterschüler» Joseph Beuys, der sein Mentor wurde. Kiefer erregte mit seinen Arbeiten («Hitlergruss») und konzeptionellen Performances bereits 1969 Aufsehen. Sie riefen einen Skandal hervor, provozierten Kritik und Widerstand. Längst ist Kiefer, der Maler, Bildhauer, Bühnendesigner, Performer und «bombastische Installateur», einer der bedeutendsten lebenden Künstler im deutschsprachigen Raum geworden.

Wim Wenders’ Porträt dringt tief in das Leben und Werken Kiefers ein. Er inszeniert Bilder aus Kiefers Kindheit (mit Anton Wenders, Grossneffe des Regisseurs als Kind und Jugend (Daniel Kiefer, Sohn des Künstlers, als junger Mann). Sie wirken wie Dokumentaraufnahmen und impressionistische Reflexionen. Beispielsweise, als der junge Anselm in einem Sonnenblumenfeld liegt und so an Van Goghs Bilder erinnert, mit denen sich der junge Kiefer beschäftigt hat.

Die Rückblicke, Querverweise und Begegnungen mit Kiefers teilweise monumentalen Kunstwerken verdichten sich zu einem Gesamtkunstwerk – fürs Kino. Die Porträtreise weckt Erinnerungen an die Nachkriegszeit und bohrt tief, indem beispielsweise der Lyriker Paul Celan (Antschel) mit Gedicht «Todesfuge» zitiert wird: « …der Tod ist ein Meister aus Deutschland». Aber auch Ingeborg Bachmann kommt zu Wort. Nicht von ungefähr, denn mit diesen und anderen Persönlichkeiten war Anselm Kiefer verbunden.

Kein anderer bildender Künstler hat sich in Deutschland mit dem Naziregime und den Folgen (Holocaust, Trümmerlandschaften) so intensiv und massiv befasst und auseinandergesetzt wie Kiefer, der damit in Deutschland teils auf heftige Kritik (Adorno) stiess. Der Londoner Kunsthistoriker Norman Rosenthal hat dies wie folgt zusammengefasst: «Kiefer Bilder mögen den Deutschen Schmerzen bereiten, aber im Ausland wird er deshalb bewundert, weil er komplexe Werke zur Hitler-Zeit, auch zum Judentum geschaffen hat.» Er hat sich mit Geschichte und Mythen (deutsche, jüdische, ägyptische, orientalisch) auseinandergesetzt. Der Werkzyklus «Die Himmelpaläste» beispielsweise umfasst 28 Skulpturen, die Themen aus der Kabbala, den Argonauten und der christlichen Mystik aufgreifen.

Die Arbeiten Kiefers gipfeln, so suggeriert der Film, in der monumentalen Installation «Die Türme der sieben Himmelspaläste. Diese windschiefen Türme bestehen aus bleiernen Büchern, errichtet auf Kiefers Anwesen Barjac in Frankreich. Dorthin hatte er sich von 1993 bis 2008 zurückgezogen. Sie bilden quasi den visuellen Schlusspunkt in Wender’s Filmkunstwerk, das Kiefers Arbeiten begreiflich macht, vertieft und nahebringt.

Wenders’ vierter 3D-Film nach «Pina», «Die schönen Tage von Aranjuez» und «Kathedralen der Kultur» sucht seinesgleichen. Er lässt tief blicken, etwa wenn Kiefer mit flüssigem Blei arbeitet, öffnet Zugänge in seine Werkstätten und vermittelt Kunstverständnis, ohne je belehrend zu wirken. Ein Bilderreigen zwischen Poesie und Wirklichkeit – auf höchstem ästhetischem Niveau, der einem «bombastischen» Kunstschöpfer meisterhaft gerecht wird. Wie man hört, widmet sich Wenders im nächsten 3D-Film dem Schweizer Architekten Peter Zumthor.


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Deutschland, Frankreich, Italien 2023
93 Minuten

Buch und Regie: Wim Wenders
Kamera: Franz Lustig

Mitwirkende: Anselm Kiefer, (Daniel Kiefer als junger Mann Anselm), Anton Wenders (Anselm als Kind)


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