Hexenkinder

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Zwangsversorgte Heimkinder erinnern sich: MarieLies Birchler musste die Züchtigungen der Barmherzigen Schwestern ertragen und rappelte sich immer wieder auf. (Calypso Film)



Verlorene Kindheit


Was haben Hexenverfolgung und Kinderverwahrung miteinander zu tun? Der Innerschweizer Dokumentarfilmer Edwin Beeler («Die weisse Arche», «Arme Seelen») rollt in seinem Film «Hexenkinder» ein düsteres Kapitel Schweizer Sozialgeschichte auf. Im 17. Jahrhundert wurden Kinder (!) in der Schweiz der Hexerei beschuldigt, gefoltert, geständig gemacht und hingerichtet – im Namen der Obrigkeit Gottes. Das war aktenkundig und liess Beeler aufhorchen. Er recherchierte und stiess auf Kinder, die im 20. Jahrhundert zu Opfern gemacht, stigmatisiert, verwahrt, gezüchtigt wurden. Beeler: «Kinder armer Eltern, Uneheliche und Waisen aus Unterschichtsmilieus galten als verwahrlost, minderwertig, wild und sündhaft. Man meinte, sie würden die Gesellschaft gefährden. Es galt, sie auf den angeblich rechten, gottgefälligen Weg zu führen, sie auf ein einfaches Leben in Armut, auf eine lebenslängliche Existenz als brave Knechte und gehorsame Christenmenschen vorzubereiten.»

Diese Kinder waren «illegitim», heisst unehelich geboren, wurden von der Gesellschaft im Stich gelassen, etwa weil die Mutter gestorben und der Vater sich das Leben genommen hatte. Kinder mussten für ihre Eltern büssen. Die Behörden verfügten Zwangseinweisungen in Waisenhäuser oder Heime, oft von Ordensschwester geführt in Pura, Zizers oder Zug. Sie nannten oder nennen sich Kongregation der Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Kreuz oder Stiftung «Gott hilft». Schon die Namen sind rückblickend ein Hohn, denn die Kinder wurden in diesen Häusern nicht nur verwahrt und gemassregelt, sondern gequält («Waterboarding» wurde dazumal schon von Barmherzigen Schwestern praktiziert), gepeitscht, blossgestellt und missbraucht – über Jahre.
Fünf erwachsene Zöglinge, zwei Frauen und drei Männer, blicken zurück und schildern, wie sie eine qualvolle Jugend erlebten – ungeschützt, unverstanden, ungeliebt, vorverurteilt und als «Hexenkinder» eingestuft – bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert. Sie trauern einer verlorenen Kindheit nach und haben doch den Lebensmut nicht verloren.

MarieLies Birchler, Jahrgang 1950, die als Bettnässerin jahrelang bestraft wurde, erinnert sich an ihre Kindheit im Waisenhaus Einsiedeln: «Die Oberin hat jeden Abend Weihwasser aus Lourdes über mein Bett gespritzt. Damals – ich war acht Jahre alt – hat man mir gesagt, ich sei vom Teufel besessen. Jahrelang hat man mir das eingetrichtert. Und ich habe es geglaubt.»
Filmer Edwin Beeler hat ihr Vertrauen gewonnen, hat Annemarie Iten-Kälin (Waisenhaus Einsiedeln), Sergio Devecchi (Haus der Stiftung «Gott hilft» in Pura und Zizers), Willy Mischler (Kinderheim «Mariahilf» in Laufen) und Pedro Raas (Waisenhaus Einsiedeln) Zeit gegeben Er liess sie ihre Erlebnisse, Gefühle und Wünsche zu schildern. Erstaunlich, bei allen sind keine Verbitterung, Rachegefühle, kein Zorn zu spüren, sondern grosse Trauer um eine verlorene Kindheit und tiefes Bedauern.

Der feinfühlige ruhige Dokumentarfilm Beelers nimmt sich Zeit und wühlt auf. Gut, dass immer wieder versöhnliche, fast idyllische Bilder von Wasser, Wälder, Wiesen, Landschaften eingestreut werden und die erschütternden Aussagen der Protagonisten «mildern». Dazu trägt auch die sonore Stimme des Obwaldner Schauspielers Hanspeter Müller-Drossaart («Gotthard», «Bozen-Krimi») bei. Ein denkwürdiger Film – über Gestern und doch gegenwärtig. Die «Täter» (Institutionen etc.) von damals äussern sich nicht, weil sie nicht wollten wie etwa die «Barmherzigen Schwestern». Andererseits hat der Regisseur bewusst den Fokus auf den religiösen Wahn, der weiterlebt, auf Verhaltensmuster und Mentalität gerichtet. Beeler interessiert die persönliche Geschichte, er wollte einen «anwaltschaftlichen Film» machen. Und das ist ihm eindrücklich bedrückend gelungen.


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Schweiz 2020  
96 Minuten

Buch, Regie,
Kamera, Montage,
Produktion: Edwin Beeler

Mitwirkende: MarieLies Birchler, Annemarie Iten-Kälin, Sergio Devecchi, Willy Mischler, Michel Mischler, Pedro Raas


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