Nicht ohne Chauffeurin: Regisseur Yūsuke Kafuku (Hidetoshi Nishijima) wird Misaki (Toko Miura) als Begleiterin zugeteilt. (Sister Distr.)
Von Verlust und Verständnis
auf der Fahrt des Lebens
Von der internationalen Kritik bereits zum Film des Jahres 2021 erkoren: Das eigenwillige dreistündige Roadmovie «Drive My Car» des Japaners Ryūsuke Hamaguchi ist ein Film jenseits von Norm und Wirklichkeit, ein Beziehungs- und Liebesdrama auf der «Strasse des Lebens» (Kino-Zeit), «eine filmische Erkundungsfahrt» (NZZ), ein Kleinod des Kinos. In Cannes 2021 mehrfach preisgekrönt (Bestes Drehbuch, Fipresci-Preis), mit dem Golden Globe (Bester fremdsprachiger Film) ausgezeichnet und viermal für den Oscar nominiert – ein sicherer Wert, aber kein Film, der sich wie ein grosses Menü konsumieren lässt. Der Film pendelt zwischen Autofahrten nach Hiroshima, Bühnenproben und Erinnerungen.
Schauspieler und Theaterregisseur Yūsuke Kafuku (Hidetoshi Nishijima) hat seine Frau Oto (Reika Kirisima) und 17 Jahre zuvor auch seine Tochter verloren. Mit seiner Frau, einer Drehbuchautorin, hatte er ein eigenwilliges inniges Verhältnis. Nach dem Liebesakt erzählt sie ihm Geschichten, beispielsweise von einer Frau, die sich in ein Neunauge verwandelt hat, einem Fisch, der vom Salzwasser ins Süsswasser wandert, sich an einem Felsen festsaugt und zum Seetang wird. Der Regisseur ist fasziniert, dabei verdrängt er, dass seine Frau mit einem jungen Mann fremdgeht. Bevor Oto ihm ihr Geheimnis mitteilen kann, stirbt sie an einer Gehirnblutung. Das ist die eigentliche Vorgeschichte zum Film. Erst nach rund dreissig Minuten setzt der Titel ein.
Kafuke lebt in Tokio und trauert auch zwei Jahre nach ihrem Tod um seine Frau. Fast widerwillig nimmt er ein Engagement in Hiroshima an. Er soll an einem Festival Anton Tschechows «Onkel Wanja» inszenieren. Sein Konzept sieht vor, dass das Ensemble verschiedene Sprachen spricht, darunter ist auch der heissblütige junge Schauspieler Takatsuki (Masaki Okada), einst Liebhaber seiner Frau, und eine Koreanerin, die sich nur in Gebärdensprache mitteilen kann. Die verbale Kommunikation ist aufgehoben, und trotzdem kann das Zusammenspiel stattfinden. Aufgrund eines vorgängigen Unfalls hat die Festivalleitung Kafuku dazu «verknurrt», eine Chauffeurin zu akzeptieren, die ihn zum Hotel fährt – in seinem alten roten Saab. Das Auto ist sein Rückzugsort, hier nimmt er Verbindung zur verstorbenen Oto auf, deren Stimme auf einer Kassette weiterlebt. Hier hört er Tschechows Stück «Onkel Wanja», da kann die 23jährige Misaki (Tôko Miura) nur ein Störfaktor sein. Doch auf den langen Fahrten kommt sich das seltsame Gespann näher, entdeckt Gemeinsamkeiten. Die Fahrerin reisst ihn aus der Lethargie. Erst jetzt kann er loslassen, Abstand zur Trauer gewinnen.
Liebe und Verlust, Einsamkeit und Kommunikation mit und ohne Worte, Loslassen und Versöhnung – diese Themen werden in verschiedenen Geschichten und Beziehungen aufgefächert. Behutsam, innig, leise, oft zwischen den Zeilen, Worten und Gesten. Hamaguchi, der seinen Film nach der Erzählung von Murakami Haruki geschrieben hat, entwickelt eine Meisterschaft der Vernetzung von Beziehungen, Neigungen und Zuneigungen, von inneren und äusseren Verhältnissen. Ein Film auch, der Zeit und Raum vergessen lässt. Ein Kinoereignis!
«Drive My Car» ist es wohl auch zu verdanken, dass Hamaguchis vorgängiger Kinofilm «Wheel of Fortune and Fantasy» im April in unsere Kinos kommt. Er erzählt in drei Episoden von Frauen, Freundschaften und Liebe, in Berlin 2021 mit dem Grossen Preis der Jury ausgezeichnet. Demnächst mehr.
Japan 2021
179 Minuten
Regie: Ryūsuke Hamaguchi
Buch: Hamaguchi, Takamasa Õe
Kamera: Hidetoshi Shinomiya
Mitwirkende: Hidetoshi Nishijima, Toko Mizura, Masaki Okada, Reika Kirishima
Kategorie Filmkritik
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