Tár

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Mit absolutem Anspruch: Chefdirigentin Lydia Tár (Cate Blanchett) duldet keinen Widerspruch.  (Universal)


 

Dirigieren und diktieren


Sie ist der weibliche Star unter den Dirigenten, von Leonard Bernstein protegiert. Sie hat wichtigen Auszeichnungen wie Emmy, Grammy, Oscar und Tony Award gewonnen und will ihre Karriere mit der Live-Einspielung von Gustav Mahlers 5. Sinfonie krönen. Lydia Tár wirkt als Chefdirigentin eines grossen Orchesters in Berlin, wobei wohl die Berliner Philharmoniker als Vorbild dienten. Solche Spitzenposition hat in Deutschland noch keine Frau bekleidet. Lydia ist gnadenlos im Anspruch, absolut in der Leitung und der Musik verfallen. Geradezu herrisch und despotisch schwingt sie den Taktstock. So wird sie in Todd Fields Psycho- und Melodrama «Tár» eingeführt.

Ein hektisches Hin und Her: Dort Podiumsgespräch mit einem Redaktor des «New Yorker», hier Proben in Berlin für eine Live-Aufnahme und Abschluss des Sinfonie-Zyklus von Gustav Mahler. Dann die Leitung einer Masterclass in New York, wobei sie den Studenten Max massregelt, der sie beschimpft und die Veranstaltung protestierend verlässt. Sie ist unerbittlich, wenn es um Musik geht. Auch in Besetzungsfragen dirigiert und diktiert Lydia nach eigenem Gutdünken. Sie will den gealterten Sebastian (Allan Corduner) ersetzen, will die junge russische Cellistin Olga (Sophie Kauer) fördern und ihr einen Soloauftritt beim Cellokonzert von Edward Elga zuschanzen, und das gegen übliche Orchesterregeln (Hierarchie). Denn Olga ist kein festes Orchestermitglied. Lydia hat eben ein Auge auf die junge Musikerin geworfen hat, die sie aber abblitzen lässt.

Die Lebenspartnerin und Kapellmeisterin (1. Geige) der unerbittlichen Musikfanatikerin, lebt mit Sharon (Ninas Hoss) teilweise zusammen und betreut das gemeinsame Töchterchen Petra sporadisch. Doch Sharon wird argwöhnisch, fühlt sich ins Abseits gestellt. Auch Assistentin Francesca (Noémie Merlant), die ihre Chefin liebt, leidet unter der gefühlskalten Dirigentin sich, fühlt sich verstossen und benutzt. Sie setzt kleine Nadelstiche und verlässt die gefühlskalte Dirigentin. Auch Sharon erträgt das Verhalten Lydias nicht mehr und trennt sich.

Kommt noch ein Todesfall hinzu: Krista, mit der Lydia ein Verhältnis hatte und die von ihr fallen gelassen und geächtet wurde, hat sich in den USA das Leben genommen. Die «New York Post» greift den Fall auf, beschuldigt den Star des sexuellen Missbrauchs. Lydia Tár muss sich vor einem Ausschuss rechtfertigen. Schuldig oder fahrlässig – ihr Image ist beschädigt. Das Mahler-Konzert soll ohne sie stattfinden. Lydia geht aufs Ganze, dreht durch, attackiert den Dirigenten Eliot Kaplan (Mark Strong), Begründer einer Nachwuchsförderung «Accordeon Fellowships», bei der Aufführung und wird abgeführt.

Die geniale Dirigentin masst sich mehr an als erlaubt, vermischt Privates mit Beruflichem, wird Opfer ihres Machtanspruchs. Ihre absolute Leidenschaft heisst Musik, der ordnet sie alles unter – auch Beziehungen und sexuelles Begehren. Zwischenmenschlichen Gefühlen oder Verantwortung misst sie nur flüchtige Bedeutung zu. Diese ambivalente fragwürdige Rolle verkörpert Cate Blanchett, die auch an der Produktion beteiligt ist, mit allen Fasern ihrer Schauspielkunst. Umwerfend.

Verschiedentlich wurde dem Filmer und Autor Todd Field vorgeworfen, dass er ausgerechnet eine Frau in den Mittelpunkt des Problems sexuellen Missbrauchs stellt, wo doch die Orchesterhierarchie fast gänzlich von Männern dominiert wird. Ein äusserlicher Einwurf. Der feminine Aspekt spielt nicht die Hauptrolle, sondern Machtmissbrauch, Gefühlskälte und Besessenheit (Musik). Klar, die gefallene Heldin ist keine Sympathieträgerin. Sie ist eine Fanatikerin, besessen von Musik. Geradezu selbstzerstörerisch.

Einige «Spuk»-Szenen, etwa mit Lydias Nachbarin und nächtliche Wahnvorstellungen, werden zum Störfaktor und bilden unnötige Intermezzi. Insgesamt fasziniert das Psycho- und Musikdrama – und irritiert. Vieles bleibt vage, wird quasi zwischen den Noten nur angedeutet, so auch Lydias sexuelle Verhältnisse und Begehren. Freilich weist der Film, vorwiegend in Berlin, Potsdam und Dresden (Kulturpalast) gedreht, arge Überlänge (158 Minuten) auf, besonders gegen Schluss. Die Abstecher nach New York (ins Haus ihrer Mutter) und in die Philippinen (Aufführung für ein Videospiel) wirken aufgesetzt. Vielleicht wollte Todd Field auch vermeiden, dass seine Heldin Tár ins Bodenlose fällt.
 


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USA  2022    
158 Minuten
 
Buch und Regie: Todd Field
Kamera: Florian Hoffmeister
 
Ensemble: Cate Blanchett, Nina Hoss, Noémie Merlant, Adam Gopnik, Julian Glover, Mark Strong, Sophie Kauer, Allan Corduner


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