Roma

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Zusammenhalt in der Not: Cleo (Yalitza Aparicio), vom Liebhaber im Stich gelassen, kümmert sich mütterlich um die Kinder ihrer Señora, die ebenfalls ohne Mann auskommen muss. «Roma» wurde mit dem Golden Globe Award ausgezeichnet. (RiffRaff)



Frauen im Stich gelassen


Die Netflix-Produktion «Roma» machte bereits im Vorfeld Schlagzeilen, als sie im Wettbewerb von Venedig auftauchte – und den Goldenen Löwen gewann. Der Schwarzweissfilm des Mexikaners Alfonso Cuarón wurde von einigen Kinobetreibern boykottiert, denn die Frage war: Wann schaltet Netflix den Film auf? Weniger zimperlich verhielt sich die Schweizer Kinobranche. Die Kinos RiffRaff in Zürich und das Bourbaki in Luzern starteten Ende November und zeigen das meisterliche Werk über den Netflixstart (14. Dezember) hinaus.

Der Titel mag irreführend sein, hat er doch nichts mit der Stadt am Tiber zu tun, sondern bezieht sich auf einen Stadtteil Mexico-Citys. Ein herrschaftliches, etwas vergammeltes Haus, ein Fliesenboden im Innenhof, eine Frau liest Hundekot auf. Der heimkehrende Hausherr Antonio (Fernando Grediaga) flucht über den Köter Borras und seine «Hinterlassenschaft». Dienstmagd Cleo (Yalitza Aparicio) verrichtet stumm ihre «Drecksarbeit». Aber Cleo ist mehr als eine Muchacha, ein Hausmädchen für Señora Sofía (Marina de Tavira), die sich nur rudimentär um ihre vier Kinder kümmert. Für diese ist Cleo Mutterersatz und Vertraute, ein Teil der Familie. Eine flüchtige Bekanntschaft mit Fermin, einem Anhänger der Kampfkünste, hat Folgen. Cleo wird schwanger, und ihr Geliebter macht sich schnöde aus dem Staub. Was nun? Sie vertraut sich ihrer «Herrin» an, die viel Verständnis für Cleos Lage hat und sie unterstützt. Letztlich sind die beiden Frauen auf sich allein gestellt, denn auch der feine Señor hat seine Familie verlassen.

Es ist eine Zeit der Unruhen, der Proteste, der Umwälzungen. Im Jahr 1971 ereignet sich das Fronleichnam-Massaker in Mexiko-City: Eine paramilitärische Truppe, hinter der die Regierung steckt, tötet unzählige Studenten (Cleo wird Zeugin dieses Gewaltaktes). Die Verfolgung, Verschleppung und Ermordung Tausender während der Regentschaft des Präsidenten Luis Echeverría Álvarez in Mexiko wurde nie recht aufgeklärt und verfolgt. Zurzeit des Massakers war Regisseur Alfonso Cuarón neun Jahre alt. Nach grossen Erfolgen (Oscar für sein Werk «Gravity») kehrt Cuarón nach vielen Jahren erstmals wieder nach Mexiko zurück, um sich seinem Heimatland zu widmen. «Roma» ist ein Film um gesellschaftliche Verhältnisse und Umwälzungen, vor allem eine Hommage an eine Frau, die geduldig und fast wehrlos ihr Leben erträgt, inmitten einer rauen erbarmungslosen Wirklichkeit.

«Roma» ist ein ruhiger Film über den profanen Alltag einer Familie des Mittelstandes, in langen Einstellung erfasst (Kamera Cuarón). Die Familie bröckelt wie die Gesellschaft. Niemand scheint mehr sicher. Die Heldin Cleo, allein auf sich gestellt, ist Kristallisationspunkt, sie verbündet sich quasi mit der Señora – und umgekehrt über Klassenunterschiede hinaus. Die Menschen in Cleos Umgebung sind eher oberflächlich gezeichnet, sie haben ein Gesicht, aber keine Geschichte – weder der Patron und seine Frau noch die Kinder. Gleichwohl, «Roma» ist ein grossartiges Werk, das an Filme des neorealistischen Kinos Italiens erinnert. Es wurde von Mexico zurecht für die Oscars angemeldet.


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Mexiko 2018
135 Minuten

Regie: Alfonso Cuarón
Drehbuch: Alfonso Cuarón
Kamera: Alfonso Cuarón

Darsteller: Yalitza Aparicio, Marina de Tavira, Daniela Demesa, Jorge Antonio Guerrero


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