Le otto montagne

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Verwurzelter Hirte und fernsüchtiger Welterkunder: Die Freundschaft zwischen dem Bergler Bruno (Alessandro Borghi, rechts) und dem Städter Pietro (Luca Marinelli) hält auch nach 15 Jahren Trennung. (DCM)

 

Im Bann der Berge


Der Ruf der Berge lässt sie nicht los – ein Leben lang. Der Vater ging voran, der Sohn schleppte sich hinterher. Der Alte war Chemiker in einer Mailänder Fabrik und suchte, wann immer er es konnte, das Weite, das hiess Berge. Sein Sohn Pietro sollte ihm folgen, war überfordert, litt an Höhenkrankheit und wurde erst vom unerbittlichen Berggänger als Sohn respektiert, als der den Tourendrang akzeptierte und mitmachte. «Auf dem Weg liess mich mein Vater vorausgehen. Er hielt einen Schritt Abstand, damit ich notfalls seine Anweisungen, aber auch seinen Atem im Nacken hören konnte», schrieb Paolo Cognetti in seinem autobiographischen Roman «Le otto montagne – Acht Berge». «Ich musste nur einige wenige klare Regeln befolgen. Erstens: ein Tempo wählen, das ich halten konnte, ohne Rast zu machen. Zweitens: nicht reden. Drittens: an Weggabelungen immer den Pfad bergauf nehmen.»

Die Liebe zu den Bergen, die Leidenschaft (mit Betonung auf Leiden) und Sehnsucht treiben die Menschen an: den Vater, seinen Sohn Pietro und dessen Freund Bruno. Im Kern geht es aber noch um etwas Anderes, Existenzielles: Freundschaft und Bindung, Findung und Heimkehr. Wohin führt der Weg, wo findet man Erfüllung?
Mit der bittersüssen Bluegrass-Tragödie «The Broken Circle» haben die Belgier Felix Van Groeningen und Charlotte Vandermeersch ihre Sensibilität für menschliche Leidenschaft und Schwächen gezeigt. Nun haben die beiden «Flachländer» ihr Herz, ihr Sensorium für Berge entdeckt. Basierend auf dem autobiographischen Roman vom Mailänder Paolo Cognetti, der damit seine Liebe zum Aostatal dokumentierte, schufen sie ein eindrückliches elementares Berg- und Freundschaftsdrama, in Cannes 2022 mit dem Jurypreis gefeiert.

Die Jugendfreunde, Pietro aus Mailand, und Bruno, der Bauernbursche aus dem Aostatal, erkunden Wälder, Wiesen, Bäche und Berge, vergessenen Bergschächte und zerfallene Hütten. Treibende Kraft für Bergwanderungen und Gipfeleroberungen ist Pietros Vater Giovanni (Filippo Timi), der die Stadt hasst und sein Heil in der Bergwelt sucht. Besonders Pietros Mutter Francesca (Elena Lietti) engagiert sich für den Bauernjungen und dessen Ausbildung. Mehr oder weniger vergebens. Bruno wird Malocher (Maurer) in der Stadt wie sein Vater. Pietro verlässt seine Eltern, um die Welt zu erkunden.
Fünfzehn Jahre später, beide um die 30 alt, treffen sich die Jugendfreunde wieder. Pietros Vater hat seinem Sohn eine verfallene Berghütte vererbt und Bruno das Versprechen abgenommen, diese Ruine wieder aufzubauen. Ein Neuanfang und eine zweite Chance für eine Freundschaft, die scheinbar verdorrt und verkümmert war. Die Männer schliessen quasi einen neuen Bund. Die gemeinsame Behausung, Barma genannt, einsam auf rund 2000 Meter Höhe im Aostatal gelegen, wird zu ihrer Heimstätte – auf Zeit. Pietro (Luca Marinelli) bricht wieder nach Nepal und ins Himalaja-Gebirge auf, Bruno (Alessandro Borghi) baut eine andere marode Berghütte auf, zieht eine Viehwirtschaft auf und betreibt mit seiner Partnerin Lara eine Käserei. Sie haben eine gemeinsame Tochter, doch die Rechnung geht nicht auf …

Der Film folgt dem Buch getreulich. Poetische Beschreibungen der Flora, der Bergstimmungen und stiller Momente, des Schweigens und Innehaltens setzt Kameramann Ruben Impens in grandiose Bilder um. Keine Postkartenidylle, sondern ergreifender und übergreifender Lebens- und Leidensraum. Die Darsteller fügen sich zu einem Ensemble, das Bergluft atmet.

Der Titel «Acht Berge» bezieht sich auf eine nepalesische Legende: Und die erzählt ein Nepalese, er zeichnet ein Rad mit acht Speichen und einer kleinen Spitze, mit Wellen zwischen den Spitzen. Inmitten des Rades findet sich eine Krone. «Für uns ist der Mittelpunkt der Welt ein sehr hoher Berg, der Sumeru, der wiederum von acht Bergen und acht Meeren umgeben ist», liest man im Roman. «Bei uns heisst es immer: Wer hat mehr gelernt? Derjenige, der alle acht Berge gesehen, oder derjenige, der den Gipfel des Sumeru bestiegen hat?»

 
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Italien/Belgien 2022  
147  Minuten

Buch und Regie: Felix Van Groeningen und Charlotte Vandermeersch
Kamera: Ruben Impens

Darsteller: Luca Marinelli, Alessandro Borghi, Filippo Timi, Gualtiero Burzi
 

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