Fatale Entwicklung: Im bünderischen Dorf Valendas geraten die Dorfschönheit Elsi (Gianna Brunner) und ihr Vater, Gemeindepräsident Pretander (Thomas Buchli), aneinander. (mollfilm)
Im Durcheinander zusammen
Friedrich Dürrenmatts letzter Roman «Durcheinandertal» erschien 1989, ein Jahr vor seinem Tod 1990. Die damalige Kritik ging mit ihm sehr ungnädig um. Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki zerrisss ihn. Die Schweizerin Klara Obermüller sprach von einem «heillosen Durcheinander». Dokumentarfilmer Bruno Moll war jedoch fasziniert, ihn hat das Buch nicht losgelassen. «Der Roman», so Moll, «mag masslos und ein erzählerisches Monstrum sein, in seiner Substanz ist er aber eine präzise, dramatisierte Beschreibung weltlicher, aber auch helvetischer Befindlichkeit unserer Zeit.»
«Er sah aus wie der Gott des Alten Testaments ohne Bart. Er sass auf der Mauer der Strasse, die im Durcheinandertal zum Kurhaus hinaufführte, als das Mädchen ihn bemerkte. Es hielt Mani an. Der Hund war grösser als ein Bernhardiner, kurzhaarig, schwarz mit weisser Brust», beginnt Friedrich Dürrenmatts Gesellschaftssatire. Der steinreiche Moses Melker hat eine spleenige Idee: Er will in einem Bergdorf ein Kurhotel für Steinreiche einrichten, die dort im «Haus der Armut» einen «armseligen» Aufenthalt auf Zeit verbringen sollen, um so, vom «schnöden Mammon» befreit, die Gnade Gottes zu erfahren bzw. zu erkaufen. Doch die Stiftung, die hinter dem «Gottesdeal» steckt, hat noch anderes im Sinn. Zu Winterzeiten soll das Kurhaus als Unterschlupf für zwielichtiges Gesindel, sprich Handlanger und Killer eines Mafiasyndikats, dienen. Das Dorf und seine Dörfler fühlen sich getäuscht, wittern gleichwohl Profit. Manches läuft aus dem Ruder. Unter anderem beisst der Vierbeiner Mani kräftig zu, spielt sich der Sektierer Moses Melker allmächtig auf, werden Gesichtsmutationen vorgenommen und wird die fesche Dorfmaid Elsi geschwängert.
Ursprünglich sollte der Roman «Durcheinandertal» einem Spielfilm dienen. Besetzung, Drehorte und mehr standen bereits, Luna Wedler beispielsweise war als Elsi vorgesehen. Doch der Diogenes Verlag, der die Rechte am Dürrenmatt-Werk besitzt, machte ein Strich durch die Rechnung, er verweigerte sich, bremste das Projekt aus. Man hatte wohl ein grösseres, internationales Projekt im Sinn. Indes wurde der Roman vom Diogenes Verlag, weil vergriffen, frisch aufgelegt (13 Franken).
Aus den Augen, aber nicht aus dem Sinn ... Bei Recherchen zu den Walsern stiess Bruno Moll auf das Safiental, dieser unrentablen abseitigen Bündner Bergregion mit knapp 900 Einwohnern und erstaunlichen Theateraktivitäten, rund 30 Autominuten von Chur entfernt. Drei Gruppen waren dort aktiv. Moll fragte die Theatergruppe Valendas an, ob sie an dem Roman interessiert wären. Man war es: Arthur Bühler, Hans-Andrea Buchli, Martin Lieberherr und Mitstreiter packten zu.
Die leitenden Leute von der Valendas-Theatergruppe erkannten, dass dieses literarische «Durcheinandertal» viel mit ihrer Situation zu tun hat. Arthur Bühler, Bergbauer und Regisseur, beschreibt das Safiental als abgelegen, schön und wild sowie die Nähe zu Dürrenmatts Stoff. «Als wir den Roman in der Gruppe lasen und besprachen, hatten wir das Gefühl, Friedrich Dürrenmatt schaue uns während des Schreibens beim Leben im Tal zu und beschreibe so unsere eigenen Angelegenheiten. Selbstverständlich sind da viele Übertreibungen, aber im Kern trifft der Roman in manchem unsere aktuelle Lebensrealität. Abgehängt, gelegentlich von der Politik im Stich gelassen, als hoffnungsloses Auslaufmodell zum Abschuss freigegeben.»
Bruno Moll adaptierte den Roman, machte ihn bühnenreif, Bühler trug eine Mundartfassung bei. Und so begannen die Proben vor gut drei Jahren, dann kam Corona. Ein neuer Anlauf Anfang 2022. Bruno Moll begleitete die Proben, die Arbeiten am Text, an der Inszenierung, ohne selber einzugreifen. Nicht Inhalt und die bissige Dürrenmattsche Groteske über Armut und Reichtum, Kriminalität und Kungelei stehen für ihn im Vordergrund des Films, sondern Bühne und Alltag, Wahn und Wirklichkeit. Moll schneidet zwischen Proben immer wieder Alltagszenen der Theaterakteure, Landschaften und Stillleben zerfallener Höfe, Gärten oder Schneefelder. So durchdringt die Arbeit auf der Bühne die Lebensrealität des Ensembles – von Bergbauern bis zur Kindergärtnerin, vom Architekten bis zum Förster, bis zur Hausfrau. Und das Konzept funktioniert: «Die Vereinnahmung findet von aussen statt». (Moll). Premiere war dann im Juni 2022. Die Aufführungen wurden von rund 1000 Zuschauern besucht.
Das Thema vom Schattental und abgelegenen, unrentablen Dörfern wird hier spielerisch vor Augen geführt. Der Dokumentarfilm «Durcheinandertal» ermuntert und mahnt. In der Theaterarbeit wird das Gemeinsame, das Miteinander im Durcheinander gestärkt. Filmer Moll fand zwar keinen Schweizer keinen Verleih, gleichwohl Wege ins Kino mit seinem Film. Neue Ideen spuken beim Filmer herum, er ist noch immer neugierig, will Neues entdecken bei der Filmarbeit, vielleicht ein essayistischer Film über Albert Camus, dem Schriftsteller und Philosophen. Man wird sehen.
Schweiz 2023
92 Minuten
Buch, Regie, Produktion: Bruno Moll
Kamera: Daniel Leippert, Helena Vagnières
Mitwirkende: Thomas Buchli, Landwirt, Gianna Brunner, Kindergärtnerin, Moritz Küng, Architekt, Martin Lieberherr, Förster, Hans-Andrea Buchli, Metallbauer, Leonie Bandli, Sachbearbeiterin, Karin Huwyler, Heilpädagogin, Cathrin Pedrolini, Hausfrau, Hannah Singvogel
Theaterregie: Arthur Bühler, Hans-Andrea Buchli, Martin Lieberherr
Ein Filmer, der immer wieder neue Entdeckungen machen möchte: Bruno Moll. (rbr)
Bruno Moll
1948 geboren in Olten (4. Juli), Sternzeichen: Krebs
1980 Samba Lento
1982 Das ganze Leben (Interfilmpreis Berlin)
1985 Hammer
1988 Der Schuh des Patriarchen (Zürcher Filmpreis)
1992 Gente di Mare
1993 Die bösen Buben
1995 Mekong
1998 Brain Concert (Nomination Schweizer Filmpreis)
2005 Erinnern
2007 Zu Fuss nach Santiago de Compostela
2007 Die Tunisreise
2010 Pizza Bethlehem (Berner und Zürcher Filmpreis)
2012 Alpsegen
2013 Take off
2014 Schubert und ich
2019 The Song of Mary Blane
2022 Durcheinandertal
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