Anatomie d’une chute

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Zweifel um einen Todessturz: Ehefrau Sandra (Sandra Hüller) wird verdächtigt, ihren Mann ermordet zu haben. Anwalt Vincent Renzi (Swann Arlaud) verteidigt sie. (Filmcoopi)



Ein Fall von Zwist und Zweifel


Der Titel deutet es an: Es geht um einen Fall oder Sturz (chute). Im Deutschen wird er doppeldeutig, denn tatsächlich handelt es sich um einen Todessturz und einen Gerichtsfall sowie den Fall (Krise) einer Ehe. Von Anfang an: ein verschneites Chalet in der Nähe von Grenoble in den französischen Alpen. Die Schriftstellerin Sandra Voyter (Sandra Hüller) wird von einer Studentin interviewt. Ohrenbetäubende Musik stört das Gespräch massiv. Sandras Ehemann Samuel Maleski (Samuel Theis) im oberen Stockwerk sorgt für diese Beschallung, nämlich mit der Instrumentalversion des Songs «P.I.M.P» vom US-Rapper «50 Cent» und das in Endlosschleife. Was bezweckt der (unsichtbare) Partner damit? Eine Provokation, einen Abbruch? Tatsächlich bricht die genervte Sandra das Interview ab. Der elfjährige sehbehinderte Sohn Daniel (Milo Machado Graner) hat das Haus derweil mit seinem Hund Snoop verlassen, kehrt irgendwann zurück und findet seinen Vater vor dem Chalet in einer Blutlache. Tot. Was ist passiert?

Die kriminalistischen und forensischen Untersuchungen bringen keine eindeutigen Ergebnisse. Einzige Zeugin ist die Ehefrau Sandra. Welche Rolle spielte sie in diesem Fall? Ein Prozess in Grenoble soll Klarheit und Wahrheit bringen. Der Verteidiger Vincent Renzi (Swann Arnaud), ein alter Freund Sandras, hat einen schweren Stand gegen den unerbittlichen Staatsanwalt (Antoine Reinartz).

Schicht um Schicht wird vor Gericht die Zerrüttung einer Ehe, heute würde man sagen einer toxischen Beziehung, aufgerollt und seziert. Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist wohl der Unfall des Sohnes, dessen Sehkraft infolgedessen stark beeinträchtigt ist und an dem der Vater offensichtlich nicht schuldlos ist. Hinzukommen Samuels Eifersucht auf die Lebensart und kreative Kraft seiner Frau. Das hatte zu handfesten Auseinandersetzungen geführt. Musste der depressive Ehemann deshalb sterben oder hat er, der sich wohl als Verlierer (Looser) fühlen musste, den Ausweg im Suizid gesucht? Entscheidend könnte die Aussage des Sohnes sein, der selber Zweifel an den vorgebrachten «Wahrheiten» hat.

Justine Triets Psycho- und Prozessthriller beschreibt tatsächlich die Anatomie - die Sezierung - einer Beziehung sowohl zwischen Mann und Frau als auch zwischen Kind und Eltern, wobei sie sich auf zwei Schauplätze beschränkt, dem Chalet, dem «Tatort», und dem Gerichtssaal.

Ein Meisterwerk der subtilen Inszenierung einer Beziehungskatastrophe, getragen von überragenden Darstellungen, vom Jungen Milo Machado Graner, der in Wirklichkeit nicht sehbehindert ist, als Daniel und Sandra Hüller als vorverurteilter Frau, die den konservativen Rahmen sprengt. Interessant ist auch, dass man als Zuschauer bis übers Ende hinaus nicht sicher ist, ob die Ehefrau nicht doch Hand angelegt hat beim Sturz ihres Mannes. Da mag sich jeder seinen Teil denken und vermuten.

Triet hat zusammen mit ihrem Partner, dem Filmemacher Arthur Harari, Sandra Hüller die Rolle der Angeklagten auf den Leib geschrieben. Sie hatte mit der deutschen Schauspielerin bereits im Film «Sibyl – Therapie zwecklos» (2019) zusammengearbeitet. In Cannes wurde «Anatomie d’une chute» mit der Goldenen Palmes ausgezeichnet. Für Sandra Hüller kann es noch besser kommen, denn sie ist im Gespräch für zwei Oscar-Nominationen – als Sandra im Anatomie-Fall (Hauptrolle) und Hedwig, der Ehefrau des Nazis Rudolf Hess in «The Zone of Interest» (Nebenrolle).


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Frankreich 2023
151 Minuten

Regie: Justine Triet
Drehbuch: Triet, Arthur Harari
Kamera: Simon Beaufils

Mitwirkende: Sandra Hüller, Swann Arlaud, Milo Machado Graner, Antoine Reinartz


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