Oben: Annäherung einer Mutter, die mal Vater war, an ihren Sohn – Tewfik Jallab und Fanny Ardant in «Lola Pater». (ADOK Films)


Mitte: Der Maskierte und sein Freund, der Stellvertreter – Nahuel Pérez Biscayart, links, und Albert Dupontel in «Au revoir la-haut». (Pathé Film)


Unten: Eine verschupfte Lehrerin mutiert zur Furie – Fanny Ardant (links) in «Madame Hyde». (Praesens Film)




Tschüss alte Haut

Wer bin ich, wer will ich sein? Mit sich selbst eins sein, ist ein Wunsch, ein Ziel, ein Lebensziel, dem viele nachstreben, sich danach sehnen oder sich verlieren. Filme greifen solche Themen immer wieder auf. Drei neuere Beispiele: «Madame Hyde», «Au revoir la-haut» und «Lola Pater».

Identitätssuche und Identitätswechsel sind wiederkehrende Themen in Film und Literatur. Man denke an den beliebten Stoff vom Werwolf oder dem Klassiker «Dr. Jekyll und Mr. Hyde», dem wohl berühmtesten Stoff eines Doppelgängers oder Identitätswechsels. Basierend auf der Novelle (1886) des Schotten Robert Louis Stevenson (1850–1894) entstanden zahlreiche Spielfilme von Friedrich Wilhelm Murnau (1920) mit Conrad Veidt über Victor Fleming (1941) mit Spencer Tracy und Ingrid Bergman bis zu David Wickes (1990) mit Michael Caine und andere Filme und Serien mehr.

Im Kinodrama «Madame Hyde» von Serge Bozon mimt Isabelle Huppert eine verschrobene Physik-Lehrerin. Eben diese Marie ist ein echter Trauerkloss. Eines Nachts wird sie im Labor – natürlich bei Vollmond – von einem Blitz getroffen. Sie entdeckt ungeahnte Kräfte. Madame Marie Géquil (Kenner werden sofort den Namen Jekyll dahinter entdecken) mutiert zur Madame Hyde. Mit der inneren Verwandlung geht eine körperlich einher – massvoll. Die Mutation bewirkt einerseits, dass die wunderliche Pädagogin auch schulische Erfolge hat, andererseits aber zerstörerische Kräfte entwickelt und einsetzt. Eine schräge, groteske, im wahrsten Sinn strahlende Variation des alten Stoffes. Isabelle Huppert wurde dafür am Filmfestival in Locarno 2017 mit dem Darstellerpreis ausgezeichnet.

Eine falsche Identität kann auch zur Tarnung dienen. Manche Agenten- und Spionagefilme haben diesen Trick bis zum Überdruss strapaziert. Im Fall Albert stecken andere Motive dahinter. Er wird in Marrakesch einem Verhör unterzogen. Er erzählt und blendet zurück: Ende des Ersten Weltkriegs im November 1919 wird Albert Maillard (Albert Dupontel) vom arroganten, menschenverachtenden Leutnant Pradelle (Laurent Lafitte) auf ein Himmelfahrtskommando geschickt, obwohl die Waffen längst schweigen sollten. Edouard Péricourt (Nahuel Pérez Biscayart) rettet ihn, und Albert kümmert sich um seinen Retter, als dem das halbe Gesicht weggeschossen wird. Edouard wird Eugen, der Zeichner, den Albert dann repräsentiert, als die beiden Entwürfe für Kriegsdenkmäler verkaufen, die sie aber nie bauen. Der skrupellose Pradelle, der in die Familie Péricourt eingeheiratet hat, kommt ihnen auf die Schliche, lässt sie aber gewähren, um seine Vergangenheit zu vertuschen. Hinter einer Maske versteckt der Künstler Edouard/Eugen sein verunstaltetes Gesicht und wahre Identität. Eine falsche Maske hat sich auch Pradelle zueigen gemacht, der Edouards Schwester nur aus Berechnung und gesellschaftlichen Gründen geheiratet hat und das grosse Geschäft mit getürkter Umbettung von Toten macht.

Die Identitäten fliegen auf, eine späte Versöhnung und Genugtuung rücken Ungerechtigkeiten ins Lot. «Au revoir la-haut» ist ein vielschichtiges Drama nach dem Roman von Pierre Lemaitre (2013) über Lug und Trug, soziale Ungerechtigkeit und Entlarvung, Verbundenheit und Versöhnung. Regisseur Albert Dupontel, der selber den Albert-Part in diesem tragischen Maskenspiel übernimmt, hat eine vernetzte Tragödie über Komplizenschaft und Identitäten, Verletzungen, Maskeraden und perfide Rache inszeniert – und fasziniert.

Auf der Suche nach Identität. Nach dem Tode seiner Mutter will der 27-jährige Klavierexperte Zino Chekib (Tewfik Jallab) endlich wissen, was aus seinem Vater geworden ist, der vor 20 Jahren verschwand. Nach der Beerdigung fährt er mit dem Motorrad ans Meer und versucht, seinen Vater ausfindig machen. Im Süden Frankreichs stösst er auf den Namen Chekib und begegnet einer Frau, Lola, die Bauchtanz unterrichtet und Chekib heisst.
Hier gäbe es keinen Farid Chekib, weist sie ihn ab. Doch wir wissen es besser: Lola ist Farid und hat sich nach der Trennung von der Familie in eine Frau umgewandelt. Er fährt zurück nach Paris, und sie reist ihrem Sohn nach. Endlich hat sie die Kraft, ihm zu gestehen, dass sie sein Vater ist. Zino ist schockiert, zeigt sich unversöhnlich und weist sie schroff ab.

Nadir Moknèche, Buch und Regie, spielt auf zwei Klaviaturen, hier die Tänzerin Lola, die einst ein Mann war, und dort Zino, der sich verraten und im Stich gelassen fühlt. Diese beiden Ebenen verwebt der Regisseur algerisch-französischer Abstammung je länger je enger. Dazu mischt er arabischen Touch und Zigeunerblut bei. Vermittlerin der beiden verletzten Seelen ist Rachida (Nadia Kaci), Zinos Tante. Sie versucht, Brücken zu schlagen in diesem schier unversöhnlichen Konflikt. Kristallisationspunkt ist Lola/Farid, der Mann, der seinen Körper als Gefängnis empfand und ausgebrochen ist. Als Frau fand er (Farid) seine Erfüllung und neue Identität als Lola. Auf sie ist das Beziehungsdrama zugeschnitten, auf Fanny Ardant. Eine Paraderolle der 69-jährigen Schauspielerin. Ihre Präsenz, ihre Darstellung und Überzeugungskraft sind faszinierend. Gleichwohl, man kann sich nur schwer vorstellen, wie aus dem Mann Farid diese Lola werden konnte.


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Veröffentlicht Juni 2018