The Holdovers

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Zwangsgemeinschaft: Der Aufsichtslehrer Hunham (Paul Giamatti), der zurückgelassene Schüler Angus Tully (Dominic Sessa) und die gute Küchenfee Mary (Da’Vine Joy Randolph) raufen sich zusammen. (Pathé Films)


Weihnachten im Abseits


Der Originalfilmtitel bringt es auf den Punkt: «The Holdovers», was so viel wie die Überbleibsel oder Reste bedeutet. Tatsächlich bilden der Lehrer Paul Hunham (Paul Giamatti) und die Köchin der Eliteschule, Mary (Da’Vine Joy Randolph), die letzten Posten während der Weihnachtsferien im Internat. Die Barton Academy, eine elitäre Privatschule in Neuengland, hat ihre Schüler, ausschliesslich männlichen Geschlechts, in die Weihnachtsferien entlassen. Doch es gibt ein Grüppchen von fünf Schülern, die von ihren wohlhabenden Eltern quasi im Stich gelassen werden. Sie hängen fest, doch oh Wunder, eines Tages schwebt ein Helikopter aufs Schulgelände und nimmt vier der Snoby-Eleven auf, um sie in die Skiferien zu transportieren.

Allein Angus Tully (Dominic Sessa) bleibt auf dem Campus zurück, und mit dem muss sich Paul Hunham (Paul Giamatti) herumschlagen, ein unliebsamer, garstiger Lehrer, weder bei Schülern noch bei Kollegen beliebt. Der hat diesen «Straf»-Job gefasst, weil er einen Schüler mit einflussreichem Vater durchrasseln liess. Aber auch der schutzbefohlene, 17-jährige Tully ist ein Kotzbrocken, hochnäsig, sarkastisch, einsam. Hunham hat die Verantwortung, und Tully müsste parieren. Man schreibt das Jahr 1971, da mussten Schüler noch sputen. Angus Tully will ausreissen, wird von Hunham erwischt und hat sich bei dieser Fluchtgelegenheit eine Schulter ausgerenkt. Das ist zwangsläufig der Beginn einer Annäherung.

Der «Aufseher» lädt den Schüler mehr aus schlechtem Gewissen denn aus Verständnis zu einem Essen in einem Restaurant ein, wo der alte Knacker (Spezialgebiet: Alte Geschichte) Lydia Crane (Carrie Preston), die Schulsekretärin wiedersieht, und diese lädt die beiden zur Weihnachtsparty ein. Angus hat dort ein kleines Techtelmechtel mit Lydias Nichte Elise (Darby Lee-Stack). Doch weil die Dritte im Bunde, die Köchin Mary, eine passionierte Whiskey-Trinkerin, über die Stränge schlägt, müssen sie die Party frühzeitig verlassen. Mary geht’s nicht gut, sie kommt nicht über den Tod ihres in Vietnam gefallenen Sohnes hinweg und «ersäuft» ihren Kummer. Clever luchst Angus später seinem «Aufseher» ein Versprechen ab, nämlich einen Ausflug nach Boston.

Jeder trägt wie Mary eine Last mit sich herum. Hunham ist verbittert und schier unfähig, Kontakte zu knüpfen und Freundschaften aufzubauen. Frauen hat er sich quasi abgeschminkt. Er weiss, er riecht übel infolge einer Krankheit, und schielt wie ein Weltmeister. Das nimmt er mit Galgenhumor und lehrt seinen Schüler, in sein rechtes Auge zu schauen, wenn er mit ihm spricht. Jüngling Angus hat kaum Verbindung zu seiner Mutter, die ihren kranken Mann verlassen hat. Angus sehnt sich danach, seinen Vater, der an paranoider Schizophrenie und Gewaltausbrüchen leidet, in einem Sanatorium zu besuchen. Der schrullige Antik-Fachmann Hunham zeigt menschliche Seiten und Empathie. Das wird ihm zwar seinen Job kosten, ihm aber einen Freund und die Freiheit schenken, mit seinem Wohnwagen antike Stätten anzusteuern.

Alexander Payne schildert in seinem tragikomischen Drama mehr als die Gepflogenheiten einer elitären Highschool. In der Kontroverse Lehrer und Schüler, «Obrigkeit» und Gefolgschaft spiegelt sich eine Gesellschaft wider, die schon in den Siebzigerjahren (Vietnamkrieg) auseinanderklafft. Kinder reicher, einflussreicher Eltern konnten oft ihre Schützlinge vor dem Militäreinsatz schützen. Dafür steht Marys Sohn, der zwar die Barton Academy erfolgreich bewältigt hatte, sich aber kein Collegestudium leisten konnte. Er wurde eingezogen.

Auch wenn Alexander Payne sein Internatsdrama mit Abstecher nach Boston strikt in den Siebzigerjahren ortet und manches altmodisch wirkt, zielt sein Film doch auf die US-Gegenwart, auf gesellschaftliche Risse heute. Er zeichnet ein stimmiges Bild, das trotzt seines bittersüssen Beigeschmacks nie rührselig oder pathetisch wirkt. Bereits mit Golden Globes ausgezeichnet, beispielsweise für Hauptdarsteller Giamatti, liegt «The Holdovers» mit fünf Nominierungen sehr gut im Oscar-Rennen, etwa für den besten Film.


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USA 2023
133 Minuten

Regie: Alexander Payne
Buch: David Hemingson
Kamera: Eigil Bryld

Darsteller: Paul Giamatti, Dominic Sessa, Da’Vina Joy Randolp, Carrie Preston


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