Je verrai toujours vos visages

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Gespräch statt Tribunal: Die Mediatoren Fanny (Suliane Brahim) und Michel (Jean-Pierre Darroussin) versuchen Täter und Opfer einander näher zu bringen. (Frenetic Films)


Von Angesicht zu Angesicht


Cloé (Adèle Exarchopoulos) wurde von ihrem Bruder Benjamin vergewaltigt. Die alte Frau Sabine (Miou-Miou) wurde überfallen und wagt sich vor Angst nicht mehr auf die Strasse. Nawell (Leïla Bekhti) ist ebenfalls traumatisiert. Nassim (Dali Benssalah) ist ein Einbrecher, der stets versucht hat, Begegnungen mit Menschen, also vermeintlichen Opfern, bei seinen Raubzügen zu vermeiden. So ist die Konfrontation mit einem (nicht seinem) Opfer eine Premiere für den Häftling. Der Gesprächskreis, zu dem Chloé nicht gehört, wird von sechs Personen gebildet – hier Opfer, dort Täter. Die Mediatoren Fanny (Suliane Brahim) und Michel (Jean-Pierre Darroussin) sowie die Juristin Judith (Élodie Bouchez) leiten die Treffen, unterstützt von zwei Freiwilligen. Unabhängig von diesen Gesprächen versuchen die Mediatoren, ein Treffen zwischen Chloé und ihrem Bruder zu organisieren. Einer der Höhepunkte in diesem Dialogdrama.

Die Konfrontation war für alle eine Herausforderung. Filmautorin Jeanne Herry hatte sich intensiv mit restaurativer Justiz befasst. Sie war fasziniert vom Thema «Wiedergutmachung durch das Kollektiv». Und so erleben wir, wie Menschen auf beiden Seiten von Ängsten geprägt und mit «Schuldigen» konfrontiert werden. In der Begegnung, im Gespräch versuchen die Beteiligten Schritt für Schritt sich selbst zu überwinden, einen Funken Verständnis aufzubringen, den anderen zu akzeptieren. Bei manchen wirken Austausch und Öffnung (fast) heilsam, eröffnen neue Perspektiven, bringen Klarheit.

Regisseurin Herry gelang es in ihrem Kammerspiel durchweg eine psychologische Spannung aufzubauen und zu fesseln, wichtig war dazu auch die Parallelhandlung, die Arbeit an der Annäherung zwischen verletzter Schwester und ihrem Bruder. Einmal mehr kann man bilanzieren, dass der Weg das Ziel ist, das freilich nicht immer erreicht wird. «Je verrai toujours vos visages – Ich werde immer deine Gesichter sehen» hat dokumentarische Substanz: ein Spielfilm über einen dynamischen psychologischen Prozess.



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Frankreich 2022
118 Minuten

Buch und Regie: Jeanne Herry
Kamera: Nicolas Loir

Mitwirkende: Leïla Bekhti, Dali Benssalah, Élodie Bouchez, Suliane Brahim, Jean-Pierre Darroussin, Adèle Exarchopoulos, Miou Mio, Birane Ba


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