Monte Verità

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Kult- und Künstlerkolonie: Herrmann Hesse (Joel Basman, rechts) rezitiert, und Psychoanalytiker Otto Gross (Max Hubacher) probiert neue Methoden aus. Den bürgerlichen Ehe- und Familienzwängen entflohen sucht Hanna Leitner (Maresi Riegner) ihr Glück in dieser Kommune. (DCM)



Rausch der Reformer


Auf einem Berg oberhalb von Ascona finden sich Anfang des 20. Jahrhunderts Idealisten zu einer Gesellschaft, die freie Lebensformen proklamiert. Monte Verità: Der Berg in der Nähe Asconas wurde legendär – bis heute. Um 1900 suchten einige «Spinner», Aussteiger und Freidenker ein eigenes irdisches Paradies einzurichten – abseits von bürgerlichen Normen und Etiketten. Sie legten nicht nur ihre Kleider, sondern auch gesellschaftliche Korsette ab. Menschen aus allen europäischen Richtungen folgten den Signalen auf dem Monte Verità («Wahrheitsberg») – in die «vegetarische Cooperative». Wie kann man dieses Phänomen einer idealistischen Lebensphilosophie auf die Leinwand bringen?

Der Schweizer Stefan Jäger (51) hat gar nicht erst versucht, diese kulturgeschichtlichen Begebenheiten, die nur bis 1920 dauerten, zu dokumentieren. Er rückt eine Frau in den Mittelpunkt, die auf dem Monte Verità Freiräume sucht und sich emanzipiert. Hanna Leitner (Maresi Riegner), Mutter zweier Kinder, fühlt sich vom Ehemann drangsaliert, sexuell benutzt und eingeengt. Sie fotografiert gern, wird aber vom Gatten, einem Profifotografen, heruntergemacht. «Eine Frau macht so etwas nicht!» Hanna entschliesst sich spontan, das bürgerliche Wien und die Familie zu verlassen und dem Psychoanalytiker Otto Gross (Max Hubacher) in die Schweiz zu folgen. Hier auf dem Monte Verità wird sie mit freien Menschen und intellektuellen Geistern wie Hermann Hesse (Joel Basman) konfrontiert. Zuerst schockiert über solche Freiheiten und Nacktheit, fasst Hanna Vertrauen zu Lotte Hatterner (Hannah Herzsprung), einem Freigeist, der ihre künstlerischen Ambitionen unterstützt. Auch die Musiklehrerin Ida Hofmann (Julia Jentsch) ist ihr zugetan und stärkt sie. Die Therapie, die in dem Siedlungsprojekt praktiziert und etabliert wurde, zielte auf eine harmonische Lebensform mit voller sexueller Freiheit. Hanna findet Weg, Bestimmung und Befriedigung.

Verschiedene Ansätze und Vorstellungen dieser Gemeinschaft zwischen Kommune und Künstlerkolonie klingen in Jägers Spielfilm an – vom Nacktbaden bis zum Tanzen und Festen. Gleichwohl stehen hier die Wienerin Hanna, ihre Befreiungs- und Selbstfindungsgeschichte im Fokus. Das Lebensmodell Monte Verità bildet die spannende Kulisse des Spielfilms, der sich auf wahre Begebenheiten beruft. Das ist wunderbar anzuschauen (Kamera: Daniela Knapp) und respektabel inszeniert. Und doch wird man das Gefühl nicht los, dass der Film sich in Geste und Duktus verliert und zu sehr akademische Töne anschlägt. Die Emotionen erstarren wie Fotografien. Interessant ist nebenbei, dass Hanna eine Kunstfigur ist, «ihre» Fotografien aber sehr wohl existieren. So vermischen sich historischer Hintergrund und Fiktion. Ansehnlich gespielt und verkörpert von einem attraktiven Ensemble, in dem vor allem die Frauen hervorstechen.


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Schweiz, Deutschland, Österreich 2021  
116 Minuten

Regie: Stefan Jäger
Buch: Kornelija Naraks
Kamera: Daniela Knapp

Darsteller: Maresi Riegner, Joel Basman, Hannah Herzsprung, Max Hubacher, Julia Jentsch, Philipp Hauss, Daniel Brasini


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