Durchs Höllentor ins Paradies. Die Geschichte des Kunsthaus Zürich

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Kunst im Kontext: Das «Höllentor» (Rodin) wurde bereits 1949 von Emil G. Bührle erworben. Tanz der Farben im Chipperfield-Bau: Pipilotti Rists «Pixelwald» (2021) in der Sammlung Merzbacher. (zVg)



Kontext zur Kunst –
Konfrontationen, Kontroversen, Kunstsinn


100 Jahre Architektur- und Kunstgeschichte – wie bringt man das unter einen Hut, fasst Ereignisse und Entwicklung in einen Film? Produzent und Regisseur Peter Reichenbach und Sibylle Cazajus haben sich vom Berg an Dokumenten und Bildern, Fakten, Skandalen und Geschichten über das Zürcher Kunsthaus nicht abschrecken lassen. Die beiden Regisseure haben sich auf eine Zeitreise begeben von Pablo Picasso und Edvard Munch bis Pipilotti Rist heute.

Wie ist es dazu gekommen? Peter Reichenbach, 1954 in Zürich geboren, ist als Regisseur, vor allem aber als Filmproduzent («Grounding», «Der Verdingbub», «Schellen-Ursli», «Platzspitzbaby», «Wilder») bekannt. Er erzählt: «Schon als Kind bin ich mit meinen Eltern ins Kunsthaus gegangen, das setzte sich in späteren Jahren fort. Vor vier Jahren stand ich vor diesem Chipperfield-Gebäude, drehte mich um, sah die älteren Bauten wie das Gebäude im Jugendstil, dann das auf Stützen und ein weiteres. Das fand ich spannend, auch weil es mir vorher nicht so klar war. Später traf ich den Kunsthausdirektor Christoph Becker und fragte ihn nach einer Dokumentation über die Geschichte des Kunsthaus. Und der machte mir klar, dass es nichts gab über die Entwicklung des Kunsthauses, schon gar keinen Film. Der Chipperfield-Bau war für mich der Auslöser. Ich fragte die Kunsthistorikerin Sibylle, meine Nichte, an, ob sie Lust hätte, zum Thema Kunsthaus zu recherchieren. Das war vor vier Jahren.»
Und so geschah’s: Das gemeinsame Filmprojekt «Durchs Höllentor ins Paradies. Die Geschichte des Kunsthaus Zürich» wurde 2023 vollendet. Beginnend bei der Gründerzeit, also dem ersten Bau, entworfen von Karl Moser und 1910 eingeweiht, reicht der Zeitbogen bis zum jüngsten Bauwerk (Chipperfield). Insgesamt gibt es jetzt vier Kunsthaus-Erweiterungen.

Der Chipperfield-Bau wurde im Oktober 2021 eröffnet und zog in den ersten drei Monaten 100'000 Besucher an. Vor allem auch wegen der strittigen Bührle-Sammlung, welche die Diskussion und unmoralische Empörung um Raubgut während der Nazi-Zeit neu entfachte. Der Rüstungsindustrielle Emil G. Bührle, ein gebürtiger Deutsche, wurde 1923 Geschäftsführer der Maschinenfabrik Oerlikon, 1929 dann Mehrheitsaktionär, der im Zeiten Weltkrieg vor allem das Dritte Reich mit Waffen belieferte und zu einem der reichsten Schweizer aufstieg. Der erfolgreiche Waffenproduzent war aber auch Kunstsammler, Förderer und Mäzen. Er finanzierte den Pfister-Anbau des Kunsthauses von 1958. Und Auguste Rodins bronzenes «Höllentor» (nach Dantes Inferno der «Divina Commedia») war Teil des Baufonds. Einen Abguss dieser monumentalen Skulptur wurde von den Nazis bestellt. 1947 gab es eine Ausstellung und das «Höllentor» kam nach Zürich. 1949 hat es Bührle angekauft, seither ziert es den Kunsthaus-Eingang.

Bührles Sammlung schlug speziell seit der Eröffnung des Neubaus, entworfen von David Chipperfield, hohe Wellen in der medialen Öffentlichkeit. Der Filmemacher Peter Reichenbach wollte die Problematik um Raubkunst und Bührles Sammlung nicht zum zentralen Thema seines Films machen, wollte nicht bekannte Statements wiederholen. So klammerte er auch bewusst eine Stellungnahme der Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch aus. Das Thema «Krieg, Kapital und Kunst» ist jedoch durchaus Bestandteils des Films – wie auch die Bedeutung markanter Ausstellungen (Picasso 1932), die einzigartige Munch-Sammlung oder die Rolle der Frau – bis zur neuen Kunsthausdirektorin Ann Demeester aus Brügge, die seit August 2022 als erste Frau diese Funktion übernommen hat.

Reichenbach und seine Co-Regisseurin Sibylle Cazajus wollten keine übliche Chronologie bieten, sondern sind von Künstlern, Begebenheiten ausgegangen und haben daraus Themen entwickelt. «Der Film», so Filmautor Reichenbach, der sich nicht als Historiker, sondern als Erzähler sieht, «sollte nicht für ein superelitäres Publikum sein, das Kunstgeschichte studiert hat, sondern für ein breites interessiertes Publikum.»

Beschränkt ist die Dokumentation durch die Fernsehformate vom Schweizer Fernsehen und Arte auf gut 60 Minuten. Wie steht es um das Material. «Ich habe extrem breit recherchiert», berichtet Sibylle Cazajus. «Zuerst muss man sich einen Überblick verschaffen, also bin ich zuerst ins Archiv gegangen – und das ist riesig. Dann habe ich auch Sekundärliteratur studiert, die sehr punktuell ist. Das Kunsthaus hat beispielsweise alle Zeitungsartikel über Ausstellungen etc. archiviert, auch Fotos. Eine Schatztruhe!» Bei der Direktion habe man offene Türen vorgefunden, berichten die Filmer. «Ich habe Christoph Becker von an Anfang klar gemacht», so Reichenbach, «dass das Kunsthaus kein Mitspracherecht habe. Sie haben uns grosse Freiheiten gelassen.»

Die Struktur des Films leitet sich von der Baugeschichte ab. Reichenbach: «Unser roter Faden waren schon die Bauten – von Moser und Pfister zu Müller und Chipperfield. Aus den Bauten bezogen wir quasi Themen. Beim Moser-Bau beispielsweise ging es um Hodler und Männer. Wo blieben die Frauen. Dann konnte man einen Exkurs machen zu den Frauen. Beim Pfisterbau kommt man auf ganz andere Fragen, beispielsweise im Zusammenhang mit dem «Höllentor». Was geschah mit solch einem Kunstwerk, etwas, was der Künstler Rodin gar nicht mehr zu verantworten hat? Wie weit ist das Kunstwerk durch die Geschichte kontaminiert? Wie geht man damit um? Für uns war immer die Auseinandersetzung der Gesellschaft in der jeweiligen Zeit mit dem Kunstwerk relevant. Jedes hat eine Geschichte, und es wichtig, dass man auch diese Geschichte kennt. Das gibt eine andere Dimension.»

«Das hat uns beschäftigten», ergänzt die Kunsthistorikerin. «Was spielen Museen heute für eine Rolle? Oder die Fragen, die früher und heute aktuell sind, beispielsweise wieviel Platz braucht die Kunst, oder hat die Kunst Moral? Uns interessierte eben auch die Rezeptionsgeschichte, und die ist nie abgeschlossen: Wie wurde das Kunstwerk aufgenommen?»

«Kunst hat einen Kontext», sagt auch Felicitas Heimann-Jelinek, Kunsthistorikerin, Kuratorin in Jerusalem, Wien und Chicago. Sie trägt wesentliche, kritische Statements im Film beispielsweise zur Bührle-Sammlung. Meinungen, Ansichten, Kommentare fliessen ein, beispielsweise vom ehemaligen Direktor Becker und der neuen Direktorin Ann Demeester, der Kuratorin Bice Curige, dem Architekten und Publizisten Benedikt Loderer, der Kunsthistorikerin Marianne Karabelnik oder dem Künstlerinnenkollektiv Mickry3 (Nina von Meiss, Dominique Vigne und Christina Pfander).

Markante Zeitzeugen sind Gabriele und Werner Merzbacher, der als Kind jüdischer Eltern 1939 in die Schweiz kam, in den USA seine Leidenschaft für Kunst entdeckte und eine stattliche Sammlung aufbaute. Das Kunsthaus konnte 65 Gemälde (aus rund 200) aussuchen – und als Dauerleihgabe behalten: ein «Fest der Farben» vom 19. bis 21. Jahrhundert. Hervorstechend ist der Raum, der Pipilotti Rists «Pixelwald Turicum» (2021) vorbehalten ist. Eine der faszinierendsten Kunstinstallationen im Chipperfield-Bau. Merzbacher gab ihr den Auftrag, er wünschte ein positives Pendant zur ergreifenden und todtraurigen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem für ermordete jüdische Kinder in Jerusalem.

Das Museum sei auch ein Begegnungsort, ist Sibylle Cazajus überzeugt. «Der Film soll auch Anreiz sein. Er hat auf der einen Seite ein klares Zielpublikum», unterstreicht Reichenbach, «Kunstfreunde und Kunstbeflissene. Wir wollen natürlich mehr Leute ansprechen, zum Nachdenken und Nachsehen animieren.» «Er soll Lust machen auf mehr», hofft die Zürcher Kunsthistorikerin. Es bleiben Lücken, Fragen, Perspektiven, aber Lust auf Kunst und die Geschichte des Kunsthauses. Die Reise «Durchs Höllentor ins Paradies» bietet ein breites Panorama, ohne schulmeisterlich oder akademisch zu wirken. Abgeschlossen ist die Reise damit noch nicht …


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Schweiz 2023    
63 Minuten

Buch und Regie: Peter Reichenbach und Sibylle Cazajus
Kamera: Tobias Dengler

Mitwirkende: Christoph Becker, Iris Bruderer-Oswald, David Chipperfield, Bice Curiger, Ann Demeester, Felicitas Heimann-Jelinek, Marianne Karabelnik, Benedikt Loderer, Werner Merzbacher, Mikry 3


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